Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Geschmähte Hauptstadt Es liegt ein merkwürdiger Geruch über Berlin
Berlin gilt als chaotisch, wird verdammt und verurteilt. Dabei könnte ganz Deutschland von der Hauptstadt lernen. Meint Wladimir Kaminer.
Die merkwürdige Geruchsmischung aus Cannabis, Döner und Curry legt sich im Sommer über Berlin. Und überall spielt die Musik. Die Stadt verwandelt sich in der heißen Jahreszeit in einen Spielplatz für Heranwachsende, einen Kletterwald für die pubertierende Jugend. Was machen die Schulklassen Europas, wenn die Schule für die Sommerferien schließt? Richtig!
Sie fahren nach Berlin und schlendern durch die Straßen, auf der Suche nach Spaß. Die heutige Jugend von Welt informiert sich nicht durch die konventionelle Presse, liest keine Zeitungen und kauft sich keine Reiseführer. Das kenne ich von meinen Kindern – egal, ob es um Sport, Politik oder Urlaub geht, sie misstrauen den Erwachsenen und wollen die Meinung der Gleichaltrigen hören. Sie informieren sich in Gruppen-Chats, auf Twitter und Instagram.
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein aktuelles Buch trägt den Titel: "Wie sage ich es meiner Mutter. Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel".
Dort haben sie wahrscheinlich gelesen, Berlin sei die Partyhauptstadt Europas. Und Berlin muss gar nichts dafür tun, um seinen Ruf als Partystadt zu verteidigen, denn die Feierei entsteht automatisch dort, wo sich die Schulklassen und Spaßtouristen tummeln. Sie müssen nicht zur Arbeit, sie sind von den alltäglichen Sorgen befreit – also feiern sie überall, wo sie sind.
Zum Glück ist Berlin flächenmäßig die größte Stadt der Europäischen Union, hier können riesige Events unbemerkt stattfinden und wieder verschwinden. Als hätte es sie nie gegeben. Man muss an dem Spaßprogramm der Hauptstadt auch nicht teilnehmen, wenn man keine Lust auf Party hat. An einem Tag können hier die Love Parade und ein Dutzend Konzerte und Demos stattfinden, man kriegt nichts mit davon, wenn man nicht will.
Stammgäste in Ledermontur
Eine Viertelmillion Raver zogen vor nicht allzu langer Zeit zu "Rave the Planet" durch die Stadt, ich habe keinen einzigen gesehen. Parallel fand auch ein Kiss-Konzert quasi direkt vor meinem Haus statt, Depeche Mode spielte im Olympiastadion auf, und der Rapper Cro rappte in Wuhlheide. Nichts davon habe ich mitbekommen, keinen einzigen Raver gesehen beziehungsweise gerochen.
Vor dem Späti an der Ecke saßen merkwürdig angemalte Rentner in bestickten Lederjacken trotz großer Hitze, das könnten die Kiss-Fans gewesen sein, die Band ist nach meiner Berechnung ungefähr so jung wie Heino. Mein Sohn sagte mir jedoch, die Rentner in Lederjacken würden schon seit Jahren vor diesem Späti sitzen und hätten mit dem Konzert nichts zu tun.
Jedes Mal wenn ich von meinen Reisen nach Berlin zurückkomme, staune ich nicht schlecht, wie schnell sich die Landschaft ändert. "Eine Stadt in Bewegung" heißt hier in erster Linie, dass alle Menschen wie Touristen aussehen, sie tragen Rucksäcke, Koffer oder sie sind auf Fahrradtour, sie bleiben länger an den Kreuzungen stehen, als wüssten sie nicht, wo sie eigentlich hinwollen, fragen aber auch nie nach dem Weg.
Andere werden mit großen Reisebussen hierhergefahren und quasi direkt vor meiner Haustür abgesetzt. Sie gehen in Gruppen im Mauerpark spazieren und starren dort andere Touristen an, von denen sie glauben, es seien echte Berliner. Mich starren sie ebenfalls an, als wäre ich ein seltener Vogel, eine blaue Ente. Vielleicht haben sie meine Bücher gelesen, vielleicht ist es nur Paranoia. Und überall in der Stadt höre ich die russische Sprache.
Die große Welt im Kleinen
Entweder sind es Geflüchtete aus der Ostukraine, die sich in ihrer Freizeit nicht verpflichtet fühlen, Ukrainisch zu sprechen, oder Russen, die zwar hier nicht offiziell als "geflüchtet" anerkannt werden, aber aus ihrer Heimat wegmussten. Hunderttausende sollen sich inzwischen in Deutschland aufhalten, sie benehmen sich diskret, wollen nicht auffallen, immerhin führt ihre Heimat, nach Behauptung des dortigen Regimes, "einen Krieg gegen Europa".
Doch dafür ist Berlin bekannt, hier fällt niemand auf. Man kann allein auf unserer Straße die ganze Welt kennenlernen: Vietnamesen, Mongolen, Türken, Kroaten, Syrer, Amerikaner und Schwaben haben hier ihre Läden, eng nebeneinander. Die Gegend um den Mauerpark herum ernährt sich hauptsächlich asiatisch, die vietnamesischen Schnellrestaurants beherrschen die gastronomische Landschaft. Man muss dazu sagen, dass die sogenannten Berliner doch sehr konservativ sind, was ihre Essgewohnheiten angeht.
Als vor einigen Jahren experimentierfreudige Vietnamesen es mit der mexikanischen Küche versucht hatten, ging das Projekt in die Hose. Die Restaurantbesitzer haben sich Mühe gegeben, sie haben sich große Hüte und Westen besorgt, ihre Frühlingsrollen und Wan-Tan-Taschen in Enchiladas umbenannt und einen großen Kaktus ans Fenster gemalt. Doch die gleichen Bürger, die gern bei den Vietnamesen aßen, als sie noch vietnamesisch waren, misstrauten ihnen als Mexikaner, der Kaktus blieb einsam.
Schade. In meiner Vorstellung ist diese Stadt ein perfektes Podium für einen Dialog, den wir dringend brauchen. Hier prallen Kulturen und Lebensarten aufeinander, die sonst Tausende Kilometer voneinander entfernt sind. Menschen lernen sich kennen, neue Bündnisse entstehen, die Vertreter verschiedenen Völker kommen miteinander ins Gespräch. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung.